Christusdorn

Der Christusdorn

Gondorf hoffte auf den doch noch guten Ausgang einer Sache, die ihm mittlerweile zu einer Herzensangelegenheit geworden war, deren einfühlsame Begleitung er jedoch ihm nun unverständlicherweise jahrelang vernachlässigt hatte.

Er war an diesem hellen Apriltag gegen Mittag auf dem Weg vom Büro in der Stadt nach Hause und freute sich auf die Gartenarbeit in seinem refugio, wie er seinen Flecken Land am Waldesrand nannte.

Als er das Ortsschild von Tennstedt passierte, sah er rechter Hand, wie Hinrich Pistorius vor seinem Laden, in dem Gondorf von der Armbanduhrbatterie bis zur Handwaschpaste alles fand, was er zu den entsprechenden Gelegenheiten benötigte, Körbe verschiedener Größe in ein Holzregal sortierte. Am Tag zuvor wurden dort noch unglasierte Tonkrüge präsentiert, von denen Gondorf einen mittelgroßen für seine Südterrasse am Teich erworben hatte, um sie mit den ersten, am Vortag gekauften Tulpen zu füllen.

Wie stets um diese Tageszeit bot der Ort ein Bild be-schaulicher Geschäftigkeit. Eine junge Mutter stand mit einem prall gefüllten Einkaufskorb auf dem Gepäckträger neben ihrem Fahrrad an der Fußgängerampel hinter der Einmündung zum Parkplatz der Bankfiliale der regionalen Pomonia Landesbank AG. Gondorf hatte deren angeblich seriöse Kundenbetreuung ihren ebenso angeblichen Führungskräften wie so manchen anderen ihres Gewerbes während seiner aktiven Zeit schon des Öfteren beweiskräftig, aber im Ergebnis ohne strafrechtliche Konsequenzen vor Augen geführt.

Die junge, ihm überaus fürsorglich erscheinende Frau ver-suchte, ihr Kind, das vor der Lenkstange des Fahrrades in seinem Korbsitz eingeschlafen war, mit einem Arm in der Balance zu halten, damit es nicht hinausfiel. Sie reihte sich nach dem Überqueren der Straße unter die wartenden Fußgänger vor der Bahnschranke ein. Deren Schließen hatte Gondorf schon von weitem beobachten können, wobei er mit beruhigender Genugtuung, aber auch Verwunderung bemerkte, dass niemand den Versuch unternahm, kurz nach dem ersten Läuten der Bahnglocke noch unter den sich senkenden Barrieren hindurchzuhuschen. Da kannte er anderes.

Ein alter Mann mit kurz geschorenen Haaren neigte sich dem Kind zu und tätschelte ihm die Wangen. Gondorf sah ihn immer wieder einmal mit einer Flasche Bier und einem trockenen Brötchen in den Händen und immer auf’s Neue freundlich lächelnd vor dem Kiosk nach der nächsten Straßenkurve sitzen. Irgendetwas Nettes musste er wohl zu der Mutter des Kindes gesagt haben, denn trotz seines ungepflegten, ja wilden Aussehens strahlte sie ihn an und nickte.

Gondorf lenkte seinen Wagen mit einem bangen Gefühl von der Straße auf die kleine Parkfläche der Gärtnerei Rademann und brachte ihn vor dem großen Blumenfenster, das die gesamte Straßenfront des Hauses einnahm, zum Stehen. Er stellte den Motor ab, löste den Sicherheitsgurt und sah auf die Uhr. Er war pünktlich.

Vor einigen Tagen hatte er seinen über zwanzig Jahre alten, mittlerweile gut einen Meter in die Höhe gewachsenen und weit ausladenden Christusdorn blütenlos in die behutsamen Hände von Ina, der wissenden Blumenfee, gegeben. Für Gondorf war er eines der wenigen wirklichen Lebewesen in seiner ehemaligen Dienststelle gewesen. Ina hatte er einmal scherzhaft „eine der Zauberinnen der Botanik“ genannt. Er erinnerte sich, sie neben dem Auftrag, ihn in einen neuen, größeren Hydrokulturtopf umzusetzen, unnötigerweise – wie er sich bereits kurz nach dem Verlassen des Geschäfts eingestanden hatte – darauf hingewiesen zu haben, das Bäumchen mit ganz besonderer, vorsichtiger Zuwendung zu behandeln.

Und das nicht etwa wegen der unzähligen Dornen, die es aufwies und an denen man sich leicht verletzen konnte, sondern um ihm zum ersten Mal in ihrer beider Leben die ihm gebührende Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Etwas, das er aus ihm unerfindlichen Gründen versäumt hatte, seit er es besaß.

Der vor gut zwei Wochen pensionierte Oberrat der niedersächsischen Steuerfahndung hatte die Pflanze als gerade lebensfähigen Setzling für sein Büro erworben. Nie war es Gondorf in den Sinn gekommen, ihm während der langen Zeit ihres dienstlichen Zusammenlebens besondere Beachtung zu schenken, geschweige denn ihn in einer dem kleinen Lebewesen förderlichen Weise zu pflegen.

Und das, obwohl er Gondorf während seiner Blüte durchaus jeden Tag mit der transalpinen Schönheit seiner rosafarbenen Pracht, die ihn an die der Oleanderbüsche in der Heimat seines Vaters in der Bassa erinnerte, erfreute. Er spendierte seinem treuen Begleiter wie zum Dank, vielleicht auch aus seinem schlechten Gewissen heraus nach dessen bunter Zeit jedes Mal lediglich ein wenig speziellen Dünger. Das war alles.

Über die Jahre hatte der Sohn eines Obst- und Gemüsehändlers, der sich in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wie so viele andere auf der Suche nach einem vermeintlich besseren Leben nach Deutschland auf den Weg gemacht und dessen Namen er nach der Trennung seiner Eltern wie sie gegen den Geburtsnamen seiner Mutter getauscht hatte, dem Strauch nicht ein einziges Mal ein bequemeres Zuhause, sprich einen größeren Pflanzbehälter gegönnt. Ein angenehmes Wohnzimmer gleichsam, worin er sich zum Beispiel nach der anstrengenden Präsentation der unter seiner Wehrhaftigkeit verborgenen Schönheit zur Erholung ausstrecken konnte.

Wie hätte er auch darauf kommen sollen, gönnte er sich selbst doch nach aufreibenden Ermittlungen nur selten kleine, persönliche Belohnungen und noch seltener Ruhephasen. Mit einer Ausnahme – bisweilen fuhr er in das beschauliche Zuidam, einen ehemals typischen kleinen Fischerort am Ostufer des Ijsselmeeres in den Niederlanden, auf sein Segelboot. Dort las er, mal nach einem Tag im sanften Spiel der Wellen, mal in der sicheren Ruhe des Hafens nach bewegter Sturmfahrt, in den Werken Martin Luthers. Und er hörte die Musik Giuseppe Verdis.

Irgendwann erreichte der Christusdorn, den er auf einen Aktenbock an der Fensterseite seines Büros gestellt hatte, mit seinen Spitzen den Druck eines Porträts des italienischen Maestro. Das von Giovanni Boldini am 9. April 1886 in Paris gemalte Bild Verdis liebte Gondorf vor allen anderen. Und da er mittlerweile auch den Umfang der toskanischen Terrakottakeramik, die auf der Terrasse seines Gartenhauses stand, erreicht hatte, entschloss sich Gondorf, einige seiner Zweige an der altertümlichen Schreibtischlampe festzubinden, die seinen Arbeitsplatz zierte, damit er nicht das Gleichgewicht verlor und umstürzte.

Er stieg eine Stufe hinauf, drückte die Tür auf, betrat den Laden und sah, dass er eine Weile würde warten müssen. Er reihte sich in die lange Schlange der Kundinnen ein, die vor der Kassentheke ihre Wünsche äußerten. Während der Ausführung ihres Auftrags plauderten sie angeregt miteinander, um schließlich mit einer Aufmerksamkeit für den Besuch bei der Mutter, einen Geburtstag oder dem Ergebnis einer anderen floristischen Herausforderung das farbenfrohe, duftende Paradies zu verlassen. Das ihm so vertraute kleine Glöcklein an der Tür klingelte sie eine nach der anderen hinaus, so wie es sie auf seine vertraute Weise gerade eben begrüßt hatte. Blühende Vergänglichkeit zwischen zwei Tremoli.

Als Gondorf an die Reihe kam, bemerkte er in den Augen von Ina ein leichtes Unbehagen. Sie hatte einen Auftrag wie diesen von ihm noch nie bekommen. Gondorf meinte aber aus ihren bisherigen Begegnungen erkannt zu haben, dass sie, wie man so schön sagt, „ein besonderes Händchen“, gleichsam voller Zauberkraft für derartige Problemfälle, wie er ihn nun endlich vor sich selbst zugab, hatte. Ihre gärtnerischen  Kenntnisse und ihr Umgehen mit den ihr anvertrauten Pflanzen waren ihm Bestärkung darin, ihr sein Zutrauen zu schenken.

Ina schien ihm etwas mitteilen zu müssen, von dem er ahnte, dass es ihm nicht gefallen würde. Er wich, ohne dass er es sich in der folgenden Bewegung erklären konnte, wie in jungen Jahren von der Hand seiner Mutter gezogen, um ihn vor Ungewissem, so als sei es unangenehm, bedrohlich, zu bewahren, einen Schritt zurück.

Beinahe hätte er einer älteren, kleinen, überaus kapriziösen Dame, die in ein Blatt Papier, offensichtlich ihren Wunschzettel, versunken las, auf die Füße getreten. Er konnte sich gerade noch fangen, wich zur Seite knapp vor ein Regal mit frischen Frühlingsblumen aus und hörte das engelhaft zerbrechliche Wesen, als sänge es einen Vers aus einem Kinderlied, zu ihm sagen: 

„Sei ohne Sorge, das kann passieren.“

Und sie lächelte ihn an.

Ihre Worte waren nicht etwa, wie von ihm erwartet, ein leiser Vorwurf oder das erhoffte „Mir ist nichts geschehen.“ gewesen. Gondorf war, auch weil sie ihn duzte, für den Bruchteil einer Sekunde irritiert, erwiderte dann jedoch ihr Lächeln und sagte:

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen.“

Und während er sich wieder Ina zuwandte, erklang es hinter ihm, als wolle die Adressatin seines Dankes ihm erneut Zuversicht zusprechen:

„Das kann passieren, er wird sich erholen.“

Erst jetzt fiel Pescas Blick auf seinen langjährigen Dienstzimmergenossen, den Ina mitten auf die Ladentheke zwischen sich und ihn hingestellt hatte. Es war ein großer weißer Topf geworden, in dem der Christusdorn nun seine neue Heimat im Erker an der Südostseite des Hauses des Oberrats finden und ihn erfreuen sollte.

Doch bis dahin, so schien es Gondorf, würde es noch ein weiter Weg sein. Die Blätter des Bäumchens waren zwar nicht welk, aber sie hingen, als seien sie von einer langen Dürre ermattet, von den Zweigen herab. Es würde einiger Fürsorge und Geduld bedürfen, es zu den Freuden des Daseins zurückzuführen, dessen Pfad es vor so vielen Jahren verlassen hatte.

„Sie müssen ihn jetzt gut zwei Wochen lang vollkommen in Ruhe lassen und dürfen ihn erst in vier Wochen wieder düngen.“ sagte Ina mit einem Gesichtsausdruck, als würde sie aus einem Fachbuch für Zimmerpflanzen vortragen. 

„Lassen Sie ihn einfach in Ruhe. Lassen Sie ihn sich erholen und zu sich kommen. Ich glaube, er schafft es. Ach ja, er hatte übrigens so gut wie keine Wurzeln. Seltsam, dass er eine so lange Zeit in diesem Gefängnis überlebt hat.“

Gondorf erwartete gegenüber dem Tag, an dem er die Pflanze in Inas Obhut weggegeben hatte, sehr viel mehr Mühe, sie nun in dem viermal so geräumigen glasierten Tonkübel wieder zu seinem Auto zurückzutragen. Er bat sie deshalb um ein wenig Bast, der die Zweige zusammenhalten konnte. Nachdem er ihn verknotet und den erbetenen Geldbetrag für Inas Künste in ihre Hände entrichtet hatte, nahm er den schweren Topf in die seinen und wandte sich zum Gehen.

Das zierliche Wesen blickte von seinem Wunschzettel auf und sah ihn durch das zusammengebundene Dornengestrüpp an. 

„Er wird sich erholen, glaube mir.“

Zum ersten Mal fühlte er über diesen Worten eine innere Verbundenheit mit seinem durch ihn so lange Zeit vernachlässigten Schützling. 

„Ja, so wird es sein. Das verspreche ich Ihnen.“, bestätigte er ihre Prophezeiung und lachte sie an. „Genauso!“

Als Gondorf die Tür nach der stets anders klingenden Glöckchenmelodie hinter sich zufallen hörte, murmelte er „… so gut wie keine Wurzeln …“, stellte seinen neuen alten Freund hinter die Lehne des Beifahrersitzes in den Fond seines Wagens und machte sich auf den Weg zu sich nach Hause.

Er rollte rückwärts auf die Straße und wendete. Er musste dabei der Mutter mit ihrem Kind auf dem Fahrrad ausweichen und kurz anhalten. Da sah er im Rückspiegel seine Prophetin aus dem Laden treten und vorsichtig das kleine Podest davor hinuntersteigen. Sie hielt einen kleinen Topf in ihren Händen – mit einem jungen Christusdorn.