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Die Antiautoritäre Erziehung

Die antiautoritäre Erziehung Als mein Mann und ich heirateten, schworen wir uns: Unser Kind würde anders erzogen werden als wir. Ohne Zwänge und Druck von außen sollten sich seine Eigenarten in lieblicher Reinkultur entfalten. Wie die Lilien auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel würde unser Kind wachsen und gedeihen, die schönen Dinge dieser Welt genießen und niemals Mangel leiden an der Fülle Leib und Seele stärkender Erfahrungen. Wir begannen diese Erziehung im Säuglingsalter. Unser Sohn Felix wurde gestillt, wann immer er schrie, 27 Monate lang. Keine Stunde des Tages oder der Nacht war mir zu schade oder zu viel, wenn ich ihn schreien hörte und auch später, als Felix schon drei Jahre alt war, standen mein Mann und ich jede Nacht freudig auf, wenn uns Felix‘ nächtliches Gebrüll zu Ohren kam. Glücklicherweise verstummte unser Sohn sofort, wenn wir nachts an sein Bettchen traten. Er begann zu lachen und zeigte auf seinen Teddybären. Wir begriffen sofort: Felix will spielen. Ein Jahr lang hatten wir unsere größte Freude mit ihm. Wir akzeptierten seinen Wunsch, die Spielstunden in die Nacht zu verlegen und verbrachten regelmäßig viele wertvolle Stunden bis zum Morgengrauen mit lustigen Späßchen und Spielen in Felix‘ Kinderzimmer. Mein Mann allerdings, der jeden Morgen sehr früh aufstehen musste, hielt dies nicht lange durch. Er begann an nervösen Kopfschmerzen und Schwindelanfällen zu leiden und musste für einen Monat ins Krankenhaus. Doch das machte uns nichts. Sahen wir doch, wie gut Felix gedieh und wie prächtig er sich entwickelte. So hatte er beispielsweise mit 8 Jahren schon ungeheuren Spaß an einem Spiel mit Indianerpfeilen, das wir ihm zu seinem Geburtstag geschenkt hatten. Er schoss auf alle und alles, und wir ließen ihn froh gewähren. Zwar suchte jeder in die Haustür tretende Bekannte schreiend das Weite und wir verloren alle unsere Freunde, aber das war uns unwichtig, denn wir merkten, wie gut es Felix tat, seine Kräfte ungestört und frei und ohne jede Unterdrückung ausleben und entfalten zu können. Als Felix dann 14 Jahre alt wurde, zerschlug er die Möbel im Arbeitszimmer seines Vaters und schrie ihn an: „Ich hasse dich, ich hasse dich!“ Wir lasen Bücher über die Selbstfindung in der Pubertätsphase und waren uns einig: Nichts wäre schädlicher gewesen, als sich Felix‘ berechtigtem Wunsch nach Abnabelung und der notwendigen Korrektur seiner kindlichen Idealvatervorstellungen in den Weg zu stellen. Die Pubertätsphase dauerte denn auch nur 8-10 Jahre und wir können stolz sein, dass unser Sohn jetzt, mit 30 Jahren, ein so vernünftiger junger Mann geworden ist. Felix studiert im 24. Semester Soziologie und ist rundherum zufrieden mit seinem Leben. Er benötigt 1500 EURO von uns, aber wir haben natürlich gern unser kleines Reihenhaus am Stadtrand verkauft und sind in ein billiges Zweizimmerappartement gezogen. „Für die Bildung und Ausbildung unseres Kindes“, sagt mein Mann immer, „darf uns nichts zu schade sein.“ Nur neulich brachte Felix seinen geduldigen Vater aus dem Gleichgewicht. Das war, als der Rentenbescheid meines Mannes kam und Felix, der als gleichberechtigter Partner alle unsere Briefe liest, meinte: „Die Hälfte der Rente steht mir zu!“ Ich mag es kaum sagen, aber mein Mann wurde sogar etwas zornig und verstieg sich zu der Formulierung: „Verzogener Knabe“. Aber Felix beruhigte seinen Vater sofort, indem er ihm seine Überzeugung von der Nichtigkeit materieller Werte und der Wichtigkeit eines friedlichen familiären Zusammenlebens darlegte. Es sei ein notwendiger Schritt der Selbstfindung von Eltern, meinte er, wenn sie, die doch sowieso schon mit einem Fuße im Grabe stünden, sich rechtzeitig von zeitlichen Dingen lösten und auf die Ewigkeit vorbereiteten, und dazu gehöre auch die Erkenntnis der Unwichtigkeit des schnöden Mammon. Wir haben in den letzten Jahren keinen Urlaub mehr gemacht, und Felix‘ Vater kann auch nicht an einen Kuraufenthalt denken, den er für sein chronisches Rückenleiden dringend brauchen könnte. Manchmal denke ich sogar, wir werden beide frühzeitig „in die Ewigkeit eingehen“, wie Felix es so schön sagt. Aber wenn mein Mann dann Schmerzen hat und gelegentlich sogar auf die Idee kommt, daran zu zweifeln, ob unsere Erziehung richtig war, dann denke ich an die gute Entwicklung unseres glücklichen Sohnes und sage: „Es geht doch nichts über eine antiautoritäre Erziehung.“

Versuch über den Strandkorb 486

Versuch über den Strandkorb 486 Die vierhundertsechsundachtzig, das Meer, es tost und macht sich heran, uns zu erschrecken. Doch Dein Blick er wiegt so sacht mich, und wenn ich halt‘ die Nacht Dich, kann’s lang‘ die Zähne blecken – in vierhundertsechsundachtzig gelingt‘s auch seiner Macht nicht, uns beide aufzuwecken.

Der Christusdorn

Gondorf hoffte auf den doch noch guten Ausgang einer Sache, die ihm mittlerweile zu einer Herzensangelegenheit geworden war, deren einfühlsame Begleitung er jedoch ihm nun unverständlicherweise jahrelang vernachlässigt hatte. Er war an diesem hellen Apriltag gegen Mittag auf dem Weg vom Büro in der Stadt nach Hause und freute sich auf die Gartenarbeit in seinem refugio, wie er seinen Flecken Land am Waldesrand nannte. Als er das Ortsschild von Tennstedt passierte, sah er rechter Hand, wie Hinrich Pistorius vor seinem Laden, in dem Gondorf von der Armbanduhrbatterie bis zur Handwaschpaste alles fand, was er zu den entsprechenden Gelegenheiten benötigte, Körbe verschiedener Größe in ein Holzregal sortierte. Am Tag zuvor wurden dort noch unglasierte Tonkrüge präsentiert, von denen Gondorf einen mittelgroßen für seine Südterrasse am Teich erworben hatte, um sie mit den ersten, am Vortag gekauften Tulpen zu füllen. Wie stets um diese Tageszeit bot der Ort ein Bild be-schaulicher Geschäftigkeit. Eine junge Mutter stand mit einem prall gefüllten Einkaufskorb auf dem Gepäckträger neben ihrem Fahrrad an der Fußgängerampel hinter der Einmündung zum Parkplatz der Bankfiliale der regionalen Pomonia Landesbank AG. Gondorf hatte deren angeblich seriöse Kundenbetreuung ihren ebenso angeblichen Führungskräften wie so manchen anderen ihres Gewerbes während seiner aktiven Zeit schon des Öfteren beweiskräftig, aber im Ergebnis ohne strafrechtliche Konsequenzen vor Augen geführt. Die junge, ihm überaus fürsorglich erscheinende Frau ver-suchte, ihr Kind, das vor der Lenkstange des Fahrrades in seinem Korbsitz eingeschlafen war, mit einem Arm in der Balance zu halten, damit es nicht hinausfiel. Sie reihte sich nach dem Überqueren der Straße unter die wartenden Fußgänger vor der Bahnschranke ein. Deren Schließen hatte Gondorf schon von weitem beobachten können, wobei er mit beruhigender Genugtuung, aber auch Verwunderung bemerkte, dass niemand den Versuch unternahm, kurz nach dem ersten Läuten der Bahnglocke noch unter den sich senkenden Barrieren hindurchzuhuschen. Da kannte er anderes. Ein alter Mann mit kurz geschorenen Haaren neigte sich dem Kind zu und tätschelte ihm die Wangen. Gondorf sah ihn immer wieder einmal mit einer Flasche Bier und einem trockenen Brötchen in den Händen und immer auf’s Neue freundlich lächelnd vor dem Kiosk nach der nächsten Straßenkurve sitzen. Irgendetwas Nettes musste er wohl zu der Mutter des Kindes gesagt haben, denn trotz seines ungepflegten, ja wilden Aussehens strahlte sie ihn an und nickte. Gondorf lenkte seinen Wagen mit einem bangen Gefühl von der Straße auf die kleine Parkfläche der Gärtnerei Rademann und brachte ihn vor dem großen Blumenfenster, das die gesamte Straßenfront des Hauses einnahm, zum Stehen. Er stellte den Motor ab, löste den Sicherheitsgurt und sah auf die Uhr. Er war pünktlich. Vor einigen Tagen hatte er seinen über zwanzig Jahre alten, mittlerweile gut einen Meter in die Höhe gewachsenen und weit ausladenden Christusdorn blütenlos in die behutsamen Hände von Ina, der wissenden Blumenfee, gegeben. Für Gondorf war er eines der wenigen wirklichen Lebewesen in seiner ehemaligen Dienststelle gewesen. Ina hatte er einmal scherzhaft „eine der Zauberinnen der Botanik“ genannt. Er erinnerte sich, sie neben dem Auftrag, ihn in einen neuen, größeren Hydrokulturtopf umzusetzen, unnötigerweise – wie er sich bereits kurz nach dem Verlassen des Geschäfts eingestanden hatte – darauf hingewiesen zu haben, das Bäumchen mit ganz besonderer, vorsichtiger Zuwendung zu behandeln. Und das nicht etwa wegen der unzähligen Dornen, die es aufwies und an denen man sich leicht verletzen konnte, sondern um ihm zum ersten Mal in ihrer beider Leben die ihm gebührende Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Etwas, das er aus ihm unerfindlichen Gründen versäumt hatte, seit er es besaß. Der vor gut zwei Wochen pensionierte Oberrat der niedersächsischen Steuerfahndung hatte die Pflanze als gerade lebensfähigen Setzling für sein Büro erworben. Nie war es Gondorf in den Sinn gekommen, ihm während der langen Zeit ihres dienstlichen Zusammenlebens besondere Beachtung zu schenken, geschweige denn ihn in einer dem kleinen Lebewesen förderlichen Weise zu pflegen. Und das, obwohl er Gondorf während seiner Blüte durchaus jeden Tag mit der transalpinen Schönheit seiner rosafarbenen Pracht, die ihn an die der Oleanderbüsche in der Heimat seines Vaters in der Bassa erinnerte, erfreute. Er spendierte seinem treuen Begleiter wie zum Dank, vielleicht auch aus seinem schlechten Gewissen heraus nach dessen bunter Zeit jedes Mal lediglich ein wenig speziellen Dünger. Das war alles. Über die Jahre hatte der Sohn eines Obst- und Gemüsehändlers, der sich in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wie so viele andere auf der Suche nach einem vermeintlich besseren Leben nach Deutschland auf den Weg gemacht und dessen Namen er nach der Trennung seiner Eltern wie sie gegen den Geburtsnamen seiner Mutter getauscht hatte, dem Strauch nicht ein einziges Mal ein bequemeres Zuhause, sprich einen größeren Pflanzbehälter gegönnt. Ein angenehmes Wohnzimmer gleichsam, worin er sich zum Beispiel nach der anstrengenden Präsentation der unter seiner Wehrhaftigkeit verborgenen Schönheit zur Erholung ausstrecken konnte. Wie hätte er auch darauf kommen sollen, gönnte er sich selbst doch nach aufreibenden Ermittlungen nur selten kleine, persönliche Belohnungen und noch seltener Ruhephasen. Mit einer Ausnahme – bisweilen fuhr er in das beschauliche Zuidam, einen ehemals typischen kleinen Fischerort am Ostufer des Ijsselmeeres in den Niederlanden, auf sein Segelboot. Dort las er, mal nach einem Tag im sanften Spiel der Wellen, mal in der sicheren Ruhe des Hafens nach bewegter Sturmfahrt, in den Werken Martin Luthers. Und er hörte die Musik Giuseppe Verdis. Irgendwann erreichte der Christusdorn, den er auf einen Aktenbock an der Fensterseite seines Büros gestellt hatte, mit seinen Spitzen den Druck eines Porträts des italienischen Maestro. Das von Giovanni Boldini am 9. April 1886 in Paris gemalte Bild Verdis liebte Gondorf vor allen anderen. Und da er mittlerweile auch den Umfang der toskanischen Terrakottakeramik, die auf der Terrasse seines Gartenhauses stand, erreicht hatte, entschloss sich Gondorf, einige seiner Zweige an der altertümlichen Schreibtischlampe festzubinden, die seinen Arbeitsplatz zierte, damit er nicht das Gleichgewicht verlor und umstürzte. Er stieg eine Stufe hinauf, drückte die Tür auf, betrat den Laden und sah, dass er eine Weile würde warten müssen. Er reihte sich in die lange Schlange der Kundinnen ein, die vor der Kassentheke ihre Wünsche äußerten. Während der Ausführung ihres Auftrags plauderten sie angeregt miteinander,